"Kaum etwas ist so vergessen wie die Geschichte der genossenschaftlichen Selbsthilfe"
Reiner Rhefus, Historiker der Stadt Wuppertal
Das Haus Sedanstr. 86/88 - die „Verteilungsstelle“ 145 -
1927/28 wurde das Haus Sedanstr. 86/88 von der Konsumgenossenschaft „Vorwärts- Befreiung“ errichtet. In diesen „goldenen zwanziger Jahren“ verfolgte die Stadt Barmen ein ambitioniertes Bauprogramm – gerade auf dem Sedansberg entstanden kommunale Wohnhäuser und Wohnhöfe. Zur Versorgung der Anwohner errichte die KG eine moderne „kombinierte Verteilungsstelle“, in der zugleich Fleischwaren, Backwaren und die andere Lebensmittel - meist Kolonialwaren - nach hygienischen Gesichtspunkten in getrennten Geschäftsbereichen angeboten wurden. Viele Anwohner waren Mitglieder der Genossenschaft, denn nur Mitglieder konnten in der „Verteilungsstelle“ einkaufen.
Die Spuren an der Fassade
Allegorische Darstellungen an der Fassade verweisen auf die Ziele und Genossenschaft und die Funktion des Hauses:
Hammer und Zahnrad stehen für die Bedeutung der Arbeit; das Schiff für den klugen Handel und der Kuchen für die Bäckerei und ein Huhn für die Fleischversorgung. In den Fenstervergitterungen an der Drosselstraße sind noch die Initialen der Konsumgenossenschaft „V“ und „B“ für „Vorwärts“ und „Befreiung“ zu erhalten. Das Eichhörnchen über dem Eingang steht für die Sparsamkeit. Im Laden befand sich ein Schalter der genossenschaftseigenen Sparkasse. Mit den Sparguthaben der Mitglieder wurde der Ausbau des Unternehmens finanziert.
Die Idee der Konsumgenossenschaft
Eine Konsumgenossenschaft kaufte in großem Stil Lebensmittel zu günstigen Preisen und konnte so die Mitglieder mit guten und preiswerten Lebensmitteln versorgt. Zugleich sollten die Produkte guten Arbeitsbedingungen, - in einem genossenschaftseigenen Betrieb oder in einem Betrieb mit Tarifvertragsbindung - erzeugt wurden. Jährlich wurden Überschüsse investiert oder als „Rückvergütung“ an die Mitglieder erstattet. So entstand ein demokratisches Unternehmen – der Keim einer sozialistischen Wirtschaft.
Die Ausstellung in der ehemaligen Zentrale der KG „Vorwärts“ - Münzstraße 53
Die Konsumgenossenschaft „Vorwärts“ war 1899 in Barmen gegründet worden. Ganz in der Nähe, an der Münzstraße und dem ehemaligen Bahnhof Heubruch, befand sich die Zentrale von „Vorwärts“. Dort entstanden ab 1906 zwei moderne Brotfabriken und ein großes Lagerhaus. Der Gebäudekomplex mit einigen Wohnhäusern ist erhalten und gibt Zeugnis von der Stärke der sozialistischen Konsumgenossenschaft, der in Barmen 1914 ca. ein Viertel der Bevölkerung angehörte.
Eine Dauerausstellung in der ehemaligen Brotfabrik, Münzstr. 53, berichtet von der Genossenschaftsidee und ihrer Umsetzung. Führungen und Öffnungszeiten: http://www.vorwaerts-muenzstrasse.de
Die Konsumgenossenschaft „Vorwärts-Befreiung“
Die zwanziger Jahre waren eine Blütezeit für die Genossenschaften. 1924 schlossen sich die Elberfelder Konsumgenossenschaft „Befreiung“ und die Barmer KG „Vorwärts“ mit einigen weiteren Genossenschaften zusammen. „Vorwärts-Befreiung“ umfasste schließlich 33 Städte und Gemeinden der Region. Mit ca. 160 Verteilungsstellen war sie eine der größten Konsumgenossenschaften in Deutschland. Die Häuser, die die Genossenschaft für ihre Verteilungsstellen errichteten, genügten meist hohen architektonischen Ansprüchen und waren oftmals stadtbildprägend. Sie standen oft im Zentrum des Ortes oder an gut sichtbarer Stelle im Stadtteil. Auch die Verteilungsstelle auf der Sedanstraße galt als Mustereinrichtung.
„Wahrzeichen konsumgenossenschaftlicher Wirtschaftsmacht“
Im Juni 1931, nach drei Jahren Bauzeit, wurde auf einem 137.000 qm großes Gelände an der heutigen Nordbahntrasse –damals die wichtigste Güterstrecke - die neue Genossenschaftszentrale fertiggestellt. Hinter einem markanten Querbau liegen fünf Flügelbauten: Der Verwaltungstrakt mit großem Versammlungssaal und ein Turm, ein langgestreckter Flachbau mit Werkstätten, das Großlager, die Bäckerei und der Trakt für die Fleischverarbeitung. Ein eigener Eisenbahnanschluss und breite Durchfahrten ermöglichten reibungslose Zu- und Abfahrten.
Die Anlage lag weit sichtbar über der Stadt. Mit Stolz sprach man von der „Burg der Arbeit“, dem „größten Genossenschaftsgebäude in Deutschland“ und einem „Wahrzeichen konsumgenossenschaftlicher Wirtschaftsmacht“. Aus Österreich, Norwegen, Schweden, Holland, Italien und Japan kamen Genossenschaftler nach Wuppertal, um das Werk zu besichtigen.
Karl Drescher, Geschäftsführer der Genossenschaft
Im Haus Drosselstr 2 wohnte auch Carl Drescher (1880-1959), ein gelernter Schreiner und schließlich Geschäftsführer der Konsumgenossenschaft. Seit 1912 war Drescher hauptamtlicher Funktionär der Wuppertaler SPD, 1912 organisierte er als Parteisekretär den Wahlkampf für Friedrich Ebert (1871-1925). Sechs Jahre vertrat Ebert, zugleich Vorsitzender der SPD, die Städte Elberfeld-Barmen im Reichstag. 1919 wurde er zum Reichspräsident gewählt.
Drescher war einer der ersten sozialdemokratischen Stadtverordneten, ab 1913 Sekretär der Genossenschaft und ab 1919 ihr Vorsitzender. Unter seiner Leitung entstand die neue Zentrale. – zugleich Ausdruck eines rasanten Aufschwungs.
1933 wurde Drescher von den Nationalsozialisten seiner Funktion enthoben und zeitweise in „Schutzhaft“ genommen. Nach dem Krieg war Carl Drescher einer der Initiatoren, die die Konsumgenossenschaft neu gründeten.
Emil Luckardt, Wilhelmine Rudat und die „Internationale“
Im Jahr 1928 heiratete Carl Drescher die Witwe Wilhelmine Luckhardt (1885-1940), geb. Rudat. Deren verstorbener Mann Emil Luckhardt, ein stadtbekannte Sozialdemokrat und Wirt im Gewerkschaftshaus, war als Soldat im Weltkrieg gefallen.
Emil Luckhardt (1880-1914) war Mitglied in einem der vielen Barmer Arbeiterchöre und gilt als Schöpfer/Übersetzer des deutschen Textes des Liedes „Die Internationale“. Dieses Lied kam aus Frankreich und Luckhardt hatte als Schüler des Gymnasiums an der Sedanstraße französisch gelernt. Deshalb wurde er 1907 von seinem Chorleiter, Gustav Adolf Uthmann, gebeten, den Text des Liedes ins Deutsche zu übersetzen. Nach dem ersten Weltkrieg wurde das Lied auch in Deutschland zur Hymne der sozialistischen Arbeiterbewegung und der Kriegsgegner.
Carl Drescher und seine Frau Wilhelmine wohnten mit deren beiden minderjährigen Kindern eine Wohnung im gerade fertiggestellten Haus Drosselstrasse 2.
Die Urschrift des deutschen Textes der „Internationale“ befindet sich heute im Stadtarchiv Wuppertal.
https://www.spd-wuppertal.de/partei/geschichte-der-spd-wuppertal/
VST-Nr. 28 – einer der ersten Selbstbedienungsläden in der Stadt
1946 wurde die Konsumgenossenschaft unter dem Namen „Konsumgenossenschaft Wuppertal“ neu gegründet. Die Bezeichnung „Verteilungsstelle“ galt ab 1955 als nicht mehr zeitgemäß. Nun sprach man von „Konsum-Läden“ – doch intern trug der Laden weiterhin die Bezeichnung „VTST-Nr. 28“. „VTST-Nr. 28“ war einer der umsatzstärksten Läden im Stadtgebiet Wuppertal und der wichtigste im Stadtteil Sedansberg. 1960 gehörte er zu den ersten Filialen, die zu einem „Konsum-Selbstbedienungsladen“ umgebaut wurden.
Die Konsumgenossenschaft war damals die drittgrößte in Westdeutschland und mit der Selbstbedienung wurden die Läden effizienter, die Lebensmittel günstiger. „Konsum“ und später „Coop“ wurden zu Vorreiter der neuen Einkaufskultur – der Verkaufsketten und Supermärkte.
1994 wurde der „Konsum-Laden auf der Sedanstraße, - mittlerweile Teil der COOP-Ladenkette geschlossen.
„Konsumgenossenschaft und Reformwohnungsbau“ der 1920er Jahre – eine stadtgeschichtliche Route über den Sedansberg
In den 1920er Jahren wurde ein neues, vorbildliches Wohnungsbauprojekt verwirklicht. Die Stadt Barmen ließ Arbeiterwohnungen mit großen Gemeinschaftshöfen, Grünflächen und Versorgungseinrichtungen errichten. „Licht – Luft – Sonne“ lautete das Bauideal. Die Wohnhöfe Münzstraße 5-13 (Bj. 1927/28) und Sedanstraße 53/59 (Bj. 1924/25), der Wichelhaushof oder auch die gegenüber liegenden Häuser galten als Markenzeichen für gutes und gesundes Wohnen.
Eine stadtgeschichtlich Route über den Sedansberg informiert auf blauen Tafeln an 20 Stationen über die Architektur- und Sozialgeschichte. Sie trägt den Titel Licht–Luft –Sonne, Genossenschaften und der Reform-Wohnungsbau der 1920er Jahre. Die Route ist eine von 13 beschilderten Routen durch die interessantesten Quartiere der Stadt. (Flyer hier erhältlich)
Infos:
https://www.mi-wuppertal.de/industriekultur/routen-industriekultur